Die Geschichte von Had I Not Seen the Sun beginnt mit der Wucht eines Schlages. Li Jen-yao, ein 25-jähriger Mann, stellt sich der Polizei und legt ein Geständnis ab. Es ist kein gewöhnliches Verbrechen. Er gibt zu, der „Rainstorm Killer“ (Mörder im Regen) zu sein, ein Serienmörder, der Jahre zuvor mehrere seiner Mitschüler terrorisiert und ermordet hat.
Doch es gibt ein Problem. Tatsächlich ist es das zentrale Rätsel der Serie. Jen-yao gesteht die grausamen Details seiner Verbrechen, aber über sein Motiv schweigt er sich hartnäckig aus. Warum wurde ein scheinbar unschuldiger Junge zum kaltblütigen Mörder? Die Erzählung baut auf dieser unbeantworteten Frage auf.
Der Mörder und die Dokumentarfilmerin
Im Gefängnis wird Li Jen-yao (gespielt von Tseng Jing-hua) zu einem Geist. Er lehnt alle Besucher und die Presse ab – mit Ausnahme einer Person: Chou Pin-yu, einer aufstrebenden Dokumentarfilmerin. Er willigt ein, ihr sein erstes und einziges Interview zu geben.
Chou Pin-yu (gespielt von Chiang Chi) dient als Augen der Öffentlichkeit und versucht, das „Warum“ zu entschlüsseln. Doch die Begegnung mit dem Mörder zieht sie bald tiefer hinein als nur in ein einfaches Interview. Während ihre Gespräche mit Jen-yao fortschreiten, beginnt Pin-yu, sich auf persönliche und gefährliche Weise in den Fall zu „verstricken“.
Das Labyrinth: Realität und Traum
Hier führt die Serie ihr faszinierendstes Element ein: die Verschmelzung von Realität und Illusion. Die journalistische Recherche wandelt sich in einen Psychothriller. Pin-yu beginnt, „beunruhigende Träume“ zu haben.
Darin sieht sie ein mysteriöses Schulmädchen, das auf einem Dach tanzt. Und, noch verstörender, sie erlebt „intime, zweideutige Begegnungen“ mit dem Mörder selbst. Die Handlung wird zu einem Labyrinth, in dem die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Traum, verschwimmen, während tief vergrabene Geheimnisse über „Liebe, Hass, Schuld und Erlösung“ wieder an die Oberfläche dringen.
Die Motte und der Schmetterling
Das Epizentrum des Ganzen ist das Mädchen aus den Träumen: Chiang Hsiao-tung (gespielt von Moon Lee). Wir sehen einen Flashback: Sie tanzt Ballett auf einem Dach, wie ein „zerbrechlicher Schmetterling“, während ein junger Jen-yao sie beobachtet. Die Szene wird abrupt von einem Bild Jen-yaos in der Gegenwart unterbrochen: Er trägt einen schwarzen Regenmantel, während Nachrichtensprecher ihn als rücksichtslosen Mörder identifizieren, der sogar seinen eigenen Vater getötet hat.
Hier enthüllt die Serie die Metapher, die sie definiert. „Motten sind nachtaktiv“, erklärt eine Stimme. „Sie nutzen den Mond, um zu navigieren… Sie denken, das Licht sei der Mond… Sie wissen nicht, dass sie sich, egal wie sehr sie es versuchen, nur im Kreis drehen.“ Es ist ein tragisches Bild, da Jen-yao sich selbst als „Motte, die der Sonne nachjagt“ beschreibt.
Hsiao-tung ist der Schmetterling, die „Sonne“. Der Originaltitel, Rúguǒ Wǒ Bùcéng Jiànguò Tàiyáng (Hätte ich die Sonne nicht gesehen), ist nicht länger nur poetisch, sondern wird zur These der Tragödie. Er legt nahe, dass die Katastrophe „unumkehrbar“ wurde, als die Dunkelheit (die Motte) von dem Licht (dem Schmetterling) besessen wurde. Die Romantik ist die direkte Ursache für die düstere Spannung.
Die Architekten des Traumas
Für Fans des taiwanesischen Dramas verfügt diese komplexe Erzählstruktur über einen erstklassigen Stammbaum. Had I Not Seen the Sun stammt vom „preisgekrönten Kreativteam“, das hinter dem Kulturphänomen Someday or One Day steht.
Diese Serie definierte die Erwartungen neu, indem sie Romantik, ein Mordgeheimnis und Zeitreisen meisterhaft vermischte. Die Tatsache, dass die Drehbuchautoren Chien Chi-feng und Lin Hsin-huei für dieses Projekt wieder zusammenkommen, legt die Messlatte für die Komplexität hoch.
Dieses neue Projekt markiert das Regiedebüt von Chien Chi-feng (der gemeinsam mit Chiang Chi-cheng Regie führt). Das Team erwähnte, dass die kreative Freiheit des Streamings es ihnen ermöglicht habe, „dunkle und schwere Themen anzupakken, die auf traditionellen Plattformen selten oder gar nicht vorhanden sind“. Die Philosophie der Serie, so der Regisseur, drehe sich um „Unumkehrbarkeit“: „Wir erkennen, dass viele Wunden unumkehrbar sind und nicht heilen können.“
Die Gesichter des Mysteriums
Die Besetzung ist darauf ausgelegt, diese Dualität von Romantik und Horror zu bewältigen. Der Hauptdarsteller, Tseng Jing-Hua, ist kein Unbekannter im Bereich der High-School-Traumata. Seine Karriere startete mit dem gefeierten Horror-Thriller Detention, eine Rolle, die er unter zehntausend Bewerbern erhielt und die ihm eine Nominierung bei den Golden Horse Awards einbrachte.
Danach festigte er seinen Status mit Your Name Engraved Herein, dem erfolgreichsten LGBT-Film in der Geschichte Taiwans, in dem seine Figur das zentrale Rätsel war und eine schmerzhafte Liebe fast ohne Worte vermittelte. Mit Arbeiten, die von der Fantasy-Komödie (Oh No! Here Comes Trouble) bis zum Thriller (The Victims‘ Game) reichen, hat sich Tseng auf komplexe Charaktere spezialisiert.
Diese neue Rolle als Li Jen-yao ist eine Synthese seiner bisherigen Karriere: Sie verbindet den psychologischen Horror von Detention mit der tragischen Romanze von Your Name Engraved Herein.
Die Besetzung verstärkt diese Atmosphäre. Tseng Jing-hua und Moon Lee (der „Schmetterling“) standen bereits gemeinsam für den Thriller Detention vor der Kamera. Darüber hinaus sind beide „Absolventen“ eines weiteren gefeierten Netflix-Mystery-Thrillers, The Victims‘ Game. Das „starke Ensemble“ wird durch Schauspieler wie Lyan Chen, Umin Boya, Yao Chun-yao und Shih Chih-tian vervollständigt.
Die Begegnung mit der Dunkelheit
Had I Not Seen the Sun präsentiert sich als ein dunkler Cocktail der Genres. Es ist ein Psychothriller über die Motive eines Mörders, eine tragische Romanze über eine katastrophal endende Jugendliebe und ein surreales Drama, in dem Träume und Realität kollidieren.
Es ist eine Geschichte, die laut ihrem Hauptdarsteller „die tiefgreifenden Erfahrungen von emotionaler Trennung sowie von Heilung und Vergebung vermittelt“ und das Publikum durch „emotionale Höhen und Tiefen führen wird, wobei sie sowohl Licht als auch Dunkelheit verkörpert“.
Die Serie wird in zwei Teilen veröffentlicht. Der erste Teil von Had I Not Seen the Sun startet am 13. November auf Netflix.

