Wenn The Legend of Vox Machina die laute Party mit Bier und Drachen war, zu der wir alle gehen wollten, dann ist The Mighty Nein der existenzielle Kater am nächsten Tag. Und genau das ist seltsamerweise das Faszinierende daran. Critical Role und Amazon MGM Studios haben beschlossen, dass wir genug von klassischen Helden haben, die genau wissen, was zu tun ist. Ihr neues Animationsprojekt wirft das Handbuch des „braven Abenteurers“ aus dem Fenster und stellt uns eine Gruppe von Außenseitern vor, die mehr damit beschäftigt sind, ihre eigenen Traumata zu verbergen, als die Welt zu retten. Es ist eine Geschichte über gebrochene Menschen, die versuchen, sich nicht an ihren eigenen Scherben zu schneiden. Das Ergebnis ist viel menschlicher, dreckiger und komplexer, als wir es gewohnt sind in der Fantasy-Animation zu sehen.
Ein notwendiger Wechsel im Rhythmus (und in der Laufzeit)
Das Erste, was auffällt: Die Serie atmet anders. Vergesst die hektischen 20-Minuten-Episoden. Hier hat sich das Team um Showrunnerin Tasha Huo für Kapitel mit einer Länge zwischen 45 und 60 Minuten entschieden. Das ist keine technische Spielerei, sondern eine erzählerische Notwendigkeit. Diese zusätzliche Dauer ermöglicht etwas, das wir in diesem Genre selten sehen: Stille. Es gibt Raum für unangenehme Blicke, für leise Gespräche im Regen und für den Aufbau einer politischen Spannung, die auf kleiner Flamme köchelt. Die Serie beginnt nicht mit einer Taverne und Gelächter, sondern mit einem Paukenschlag, den wir in der ursprünglichen Kampagne nie gesehen haben: dem Diebstahl des „Beacon“ (dem Leuchtfeuer), einer Reliquie, die die Realität umschreiben könnte. Von der ersten Minute an machen sie klar, dass dies ein Spionagethriller im Gewand von D&D ist.
Die unwahrscheinlichsten „Helden“ von Exandria
Tacheles: Diese Gruppe ist ein Desaster. Aber es ist unser Desaster. Im Zentrum des Ganzen steht Caleb Widogast (Liam O’Brien), ein Magier, der buchstäblich schmutzig ist – und das nicht aus ästhetischen Gründen. Er ist ein Mann, der von Schuldgefühlen und staatlicher Indoktrination verfolgt wird und dessen einziger Anker zur Vernunft eine Feen-Katze namens Frumpkin ist – die übrigens die schlechte Angewohnheit hat, in Glitzerwolken zu verschwinden oder auf schreckliche Weise zu sterben, nur um erneut beschworen zu werden. An seiner Seite wandert Nott die Tapfere (Sam Riegel), eine Goblin mit Alkoholproblemen und Kleptomanie, die ironischerweise als mütterliche und beschützende Figur für Caleb fungiert. Ihre Dynamik ist nicht die von Waffenbrüdern, sondern die von zwei Überlebenden, die sich inmitten des Sturms aneinanderklammern.
Dann ist da das verkörperte Chaos: Jester Lavorre (Laura Bailey). Man lässt sich leicht von ihrer blauen Haut und ihrer unerschöpflichen Energie ablenken, aber unter der Oberfläche der Scherzkeks-Persönlichkeit, die Genitalien an heilige Tempelwände malt, verbirgt sich eine tiefe Einsamkeit und eine beunruhigende Hingabe an eine Entität namens „Der Reisende“. Visuell ist sie ein Spektakel: Ihre Geisterwächter sind keine biblischen Engel, sondern rosa Hamster und gewalttätige Einhörner. Vervollständigt wird die Gruppe durch ebenso komplexe Figuren: Fjord (Travis Willingham), ein Hexenmeister, der Sicherheit vortäuscht, um seine Zweifel zu überdecken; Beau (Marisha Ray), eine Mönchin, die lieber zuschlägt, bevor sie fragt, um nicht selbst verletzt zu werden; Mollymauk (Taliesin Jaffe), ein Zirkus-Hedonist, der im Jetzt lebt, weil er sich nicht an seine Vergangenheit erinnert; und Yasha (Ashley Johnson), eine Barbarin, die im Gegensatz zur ursprünglichen Kampagne von Anfang an präsent und entwickelt ist und eine stille Last trägt, die den Lärm der anderen ausbalanciert.
„Tron“ trifft auf Mittelerde
Eine der kühnsten Wendungen dieser Produktion ist ihre Atmosphäre. Wildemount, der Kontinent, auf dem die Handlung spielt, ähnelt nicht dem farbenfrohen Tal’Dorei. Es ist ein Land der Grautöne, gespalten zwischen einem autoritären Imperium mit industrieller Ästhetik und einer mysteriösen Dynastie, die das „Monströse“ umarmt. Passend dazu hat der Komponist Neal Acree etwas geschaffen, das als „Tron trifft Fantasy“ definiert wurde. Man stelle sich dunkle elektronische Synthesizer vor, die sich mit epischen Orchestern mischen. Es ist ein Soundtrack, der einem ohne Worte sagt, dass man es mit einem Konflikt zu tun hat, in dem alte Magie auf einen modernen Kalten Krieg trifft. Die Animation von Titmouse ist mit der Geschichte gereift. Gesättigte Farben sind tiefen Schatten gewichen, „schmutzigeren“ Texturen und einer Beleuchtung, die an den Film Noir erinnert. Alles ist darauf ausgelegt, dass man die Kälte, den Schmutz und die Gefahr spürt.
Eine Besetzung, die einschüchtert
Wer dachte, das Niveau der Synchronsprecher könnte nicht mehr steigen, hat sich geirrt. Critical Role hat sein Adressbuch gezückt und die Liste der Nebendarsteller ist absurd gut. Wir sprechen von Legenden wie Anjelica Huston, Mark Strong (dessen Stimme wie geschaffen für imperiale Bösewichte scheint) und Ming-Na Wen als Beaus harte Mentorin. Das sind keine simplen Cameos; es sind gewichtige Schauspieler, die einer Welt Leben einhauchen, die sich lebendig und feindselig anfühlt.
Warum ist das jetzt wichtig?
In einer Landschaft, die von Fantasy übersättigt ist, wagt The Mighty Nein zu sagen, dass man nicht edel sein muss, um der Protagonist zu sein. Es geht nicht darum, eine Prophezeiung zu erfüllen; es geht darum, die eigenen Dämonen lange genug zu überleben, um jemand anderem zu helfen. Es ist eine Geschichte darüber, eine Familie dort zu finden, wo man es am wenigsten erwartet: zwischen Müll, Verbrechen und geteiltem Trauma. Dies ist keine Serie, die man nebenbei laufen lässt, während man auf das Handy schaut. Sie ist dicht, sie ist emotional und momentweise niederschmetternd. Aber sie ist auch unglaublich lustig, mit diesem nervösen Humor von jemandem, der lacht, weil die Alternative schreien wäre. Macht euch bereit, denn die Reise nach Wildemount beginnt am 19. November auf Prime Video.

