Untamed: Wilderness-Noir auf Netflix neu definiert

17.07.2025, 03:14
Untamed - Netflix
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In der neuen Netflix-Miniserie Untamed werden die regennassen Straßen und schattigen Gassen des klassischen Film Noir durch die weite, gleichgültige Wildnis des Yosemite-Nationalparks ersetzt. Der sechsteilige Mystery-Thriller verbindet die Konventionen einer traditionellen Kriminalgeschichte mit der rohen Spannung eines Survival-Thrillers und schafft sich damit eine eigene Nische im Genre des „Wilderness-Noir“. Hier ist das zentrale Verbrechen nicht nur ein Rätsel, das gelöst werden muss, sondern ein dunkles Spiegelbild der ungezähmten Kräfte der Natur und der menschlichen Psyche. Die Serie dreht sich um Kyle Turner (Eric Bana), einen Spezialagenten der elitären Ermittlungsabteilung (ISB) des National Park Service, dessen Mission, menschliches Recht in einer unzähmbaren Landschaft durchzusetzen, die Bühne für eine packende Auseinandersetzung zwischen Ordnung und Chaos bereitet. Als ein brutaler Tod die Ruhe des Parks erschüttert, wird Turner in eine Untersuchung hineingezogen, die ihn zwingt, sich der Dunkelheit zu stellen, die unter der malerischen Schönheit lauert – und den Geistern seiner eigenen Vergangenheit.

Untamed
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Das zentrale Rätsel: Eine Kollision der Vergangenheiten

Die Handlung wird durch eine karge und beunruhigende Entdeckung in Gang gesetzt: Eine Frau ist von den Höhen des El Capitan gestürzt, ihre Leiche wird in einem Zustand aufgefunden, der sofort Fragen nach einem Unfall, einem Tierangriff oder einem Tötungsdelikt aufwirft. Diese anfängliche Ungewissheit etabliert ein Kernthema des Konflikts zwischen Mensch und Natur und zwingt sowohl die Charaktere als auch die Zuschauer, sich zu fragen, ob das Grauen das Produkt der Wildnis oder ein kalkulierter Akt menschlicher Bosheit ist. Während Kyle Turners Ermittlungen voranschreiten, verlagert sich das Rätsel von einer Überlebensfrage zu einem Psychothriller und bestätigt, dass das Verbrechen „eindeutig menschlich“ ist. Der Fall bringt Turner auf einen Kollisionskurs mit den verborgenen Geheimnissen des Parks und, was noch wichtiger ist, mit seinem eigenen ungelösten Trauma. Heimgesucht von einem alten Fall, den er nicht aufklären konnte, wird Turners Jagd nach einem Mörder zu einem potenziellen Weg der Erlösung, wobei seine persönliche Trauer eine unerbittliche Entschlossenheit nährt, der Familie des Opfers zu dienen. Der Titel Untamed (dt. Ungezähmt) wirkt somit auf mehreren Ebenen und bezieht sich nicht nur auf die raue Wildnis, sondern auch auf die ungezähmten Aspekte der menschlichen Natur – die inneren Dämonen des Protagonisten, die Motive des Mörders und die vergrabenen Geheimnisse der Gemeinschaft.

Das Ensemble: Ermittler, Insider und Geister der Vergangenheit

Die Serie bevölkert ihre Welt mit einem komplexen Ensemble, dessen Dynamik den zentralen Themen Ausdruck verleiht. Im Vordergrund steht Kyle Turner (Eric Bana), der von seiner Vergangenheit verfolgte NPS-Agent, dessen frühere Rollen in intensiven, konfliktreichen Filmen wie The Dry – Lügen der Vergangenheit und München seine Darstellung prägen. Als ausführender Produzent ist Banas Engagement für das Projekt spürbar. Ein Gegenpol zu Turners Aufruhr ist Paul Souter (Sam Neill), der erfahrene leitende Park-Ranger und ein lebenslanger Yosemite-Insider. Souter ist ein stabiler, sachkundiger Freund von Turner, der sich sowohl mit dem kriminellen Element des Parks als auch mit dessen Bürokratie auskennt. Neills Anwesenheit erinnert an seine ikonische Rolle in Jurassic Park und fügt die Ebene einer Autoritätsperson hinzu, die erneut über ein wunderschönes, aber gefährliches Gebiet wacht. Der Einstiegspunkt für das Publikum ist Naya Vasquez (Lily Santiago), eine ehrgeizige Ranger-Anfängerin und ehemalige Polizistin aus Los Angeles, die mit ihrem kleinen Sohn einen Neuanfang in Yosemite sucht. Ihre großstädtischen Mordermittlungstechniken kollidieren anfangs mit Turners instinktgetriebenen Methoden, was einen bedeutenden Charakterbogen schafft, während sie sich an eine Welt mit anderen Überlebensgesetzen anpasst. Der Geist von Turners Vergangenheit wird durch seine Ex-Frau Jill Bodwin (Rosemarie DeWitt) verkörpert. Als ehemalige Parkberaterin, die inzwischen wieder verheiratet ist, unterhält sie eine „starke Bindung“ zu Turner und fungiert als Hüterin seines Traumas und emotionaler Anker der Noir-Elemente der Geschichte. Abgerundet wird die Kerngruppe durch zwei Figuren, die die Extreme der Parkgesellschaft repräsentieren: Shane Maguire (Wilson Bethel), ein zurückgezogener Ex-Army-Ranger und Wildtierexperte, der nach seinen eigenen Regeln lebt, und Bruce Milch (William Smillie), ein erfahrener Ranger, dessen Groll gegenüber Turner eine Quelle interner Konflikte darstellt.

Die kreative Handschrift: Meister des Wildnis-Thrillers

Untamed wird vom Vater-Tochter-Team Mark L. Smith und Elle Smith geleitet, die als Schöpfer, Autoren und Co-Showrunner fungieren. Mark L. Smiths Arbeit an Filmen wie The Revenant – Der Rückkehrer und American Primeval etabliert ihn als eine prominente Stimme in Geschichten, die von Überleben und dem unbarmherzigen Konflikt zwischen Mensch und Natur geprägt sind. Sein visuell-deskriptiver Stil, der Handlung und Atmosphäre über den Dialog stellt, passt perfekt zum Ton der Serie. Elle Smith, die zuvor Das Erwachen der Jägerin mit ihrem Vater geschrieben hat, bringt eine gemeinsame Sensibilität für das Genre mit. Die Serie steht als zeitgenössischer Beitrag in einer informellen thematischen Trilogie amerikanischer Wildnisgeschichten, die Mark L. Smith für Netflix entwickelt hat. Alle sechs Episoden werden von Thomas Bezucha inszeniert, dessen Arbeit an Filmen wie Lass ihn gehen für ihr auf Charaktere fokussiertes Drama und starke schauspielerische Leistungen bekannt ist. Diese Paarung eines Regisseurs, der sich auf intimes Drama versteht, mit einem Autor, der für hochkonzeptionelle Umweltspannung bekannt ist, deutet auf eine bewusste kreative Synthese hin, die sicherstellt, dass der charaktergetriebene Aspekt des Thrillers ebenso stark ist wie die Action.

Die Landschaft als Charakter: Die Dualität von Yosemite

In Untamed ist der Yosemite-Nationalpark mehr als nur ein Schauplatz; er ist ein aktiver Teilnehmer. Die Schöpfer konzentrieren sich bewusst auf die 90 Prozent des Parks, die von Touristen ungesehen bleiben – ein riesiger, gefährlicher Raum, der nach seinen eigenen Regeln funktioniert. Obwohl die Serie im ikonischen amerikanischen Park spielt, wurde sie hauptsächlich in British Columbia, Kanada, gedreht, wobei Orte wie The Chief in Squamish als Kulisse für El Capitan dienten. Diese Produktionsentscheidung unterstreicht die Herausforderung, die Essenz eines Ortes einzufangen. Die visuelle Sprache der Serie stellt majestätische Landschaften einer dunklen, bedrohlichen Atmosphäre gegenüber, in der die Wildnis sowohl ein Ort ist, um Geheimnisse zu verbergen, als auch ein Schmelztiegel, der moderne Künstlichkeit abstreift und eine Abhängigkeit von urzeitlichen Instinkten erzwingt. Die Geschichte greift auch eine zeitgenössische kulturelle Angst vor den Mysterien der amerikanischen Nationalparks auf, die an Folklore über ungeklärte Vermisstenfälle erinnert und der fiktiven Erzählung eine beunruhigende Wahrhaftigkeit verleiht. Die reale Geschichte und die Legenden der Yosemite-Region, einschließlich der Tatsache, dass ihr ursprünglicher Name von einem Wort für „Mörder“ abgeleitet ist, liefern einen reichhaltigen, unheilvollen Subtext, der den beunruhigenden Ton der Serie vertieft.

Alle sechs Episoden der Miniserie Untamed wurden am 17. Juli 2025 auf Netflix veröffentlicht.

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