Eine neue Netflix-Dokuserie befasst sich mit einem der eindringlichsten und rätselhaftesten ungelösten Fälle der jüngeren Geschichte: dem Verschwinden von Amy Lynn Bradley. Der Film, Amy Bradley ist spurlos verschwunden, rekonstruiert akribisch die Ereignisse rund um das Verschwinden der 23-Jährigen von einem Kreuzfahrtschiff und präsentiert eine Erzählung voller widersprüchlicher Theorien, beunruhigender Zeugenaussagen und der unendlichen Suche einer Familie nach Antworten. Die Serie beginnt mit der idyllischen Szene eines Familienurlaubs, einer Belohnung für Ron Bradleys Arbeit als Versicherungsmanager. Die Familie Bradley – Ron, seine Frau Iva, ihr Sohn Brad und ihre Tochter Amy – ging an Bord des Royal Caribbean-Kreuzfahrtschiffes Rhapsody of the Seas für eine einwöchige Tour durch die Karibik, mit geplanten Stopps in Aruba und Curaçao. Der Dokumentarfilm porträtiert Amy als eine lebhafte junge Frau an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Als frischgebackene Hochschulabsolventin mit einem Abschluss in Sportpädagogik war sie eine talentierte Athletin und ausgebildete Rettungsschwimmerin. Nach ihrer Rückkehr sollte sie eine neue Stelle bei einer Computerberatungsfirma antreten. Der Film unterstreicht, dass ihr Leben voller Pläne und Verpflichtungen war, einschließlich eines neuen Hundes, der zu Hause auf sie wartete – Details, die in krassem Gegensatz zu jeder Annahme stehen, sie habe die Absicht gehabt zu verschwinden. Doch die Serie führt auch einen entscheidenden Widerspruch ein: Trotz ihrer Fähigkeiten im Wasser hegte Amy eine tiefe Angst vor dem offenen Ozean, ein Detail, das die einfachste Erklärung für das, was als Nächstes geschah, verkompliziert.
Die letzten Stunden an Bord
Der Dokumentarfilm setzt akribisch eine Zeitleiste von Amys letzten bekannten Stunden zusammen. In der Nacht vor ihrem Verschwinden war sie mit ihrem Bruder Brad in der Borddisco, tanzte und verkehrte mit anderen Passagieren und Mitgliedern der Schiffsband Blue Orchid. Ein Videograf nahm Aufnahmen von Amy auf der Tanzfläche mit dem Bassisten der Band, Alister Douglas, bekannt als „Yellow“, auf. Laut dem computergestützten Türschlosssystem des Schiffes kehrte Brad gegen 3:35 Uhr in die Familienkabine zurück, und Amy folgte nur fünf Minuten später. Die beiden unterhielten sich eine Weile auf ihrem privaten Balkon, bevor Brad schlafen ging. Seine letzten Worte an seine Schwester waren: „Ich liebe dich.“ Der Film konzentriert sich dann auf ein kritisches Zeitfenster. Zwischen 5:15 und 5:30 Uhr wachte ihr Vater, Ron, kurz auf und sah Amys Beine auf dem Liegestuhl des Balkons, wo sie zu schlafen schien. Er bemerkte, dass die Balkontür geschlossen war, und schlief wieder ein. Als er um 6:00 Uhr vollständig erwachte, war Amy verschwunden. Ihre Zigaretten und ihr Feuerzeug fehlten ebenfalls, aber ihre Schuhe hatte sie in der Kabine zurückgelassen.
Alarm auf hoher See
Was folgte, war eine sich langsam entwickelnde Panik, die nach Angaben der Familie auf institutionelle Gleichgültigkeit stieß. Der Dokumentarfilm beschreibt die verzweifelten Bemühungen der Familie, die Besatzung zu alarmieren, als die Rhapsody of the Seas in Curaçao anlegte. Sie flehten das Schiffspersonal an, das Herablassen der Gangway zu verzögern, aus Angst, Amy könnte vom Schiff gebracht werden. Sie baten auch um eine schiffsweite Durchsage, aber die Besatzung weigerte sich angeblich mit der Begründung, es sei zu früh, um die Lautsprecheranlage zu benutzen. Der erste Aufruf „Möge Amy Bradley bitte zum Zahlmeisterpult kommen?“ wurde erst gegen 8:00 Uhr morgens ausgestrahlt, zu einer Zeit, als ein erheblicher Teil der 2.400 Passagiere des Schiffes bereits von Bord gegangen war, um die Insel zu erkunden. Die Familie Bradley kritisiert seit langem die Reaktion von Royal Caribbean, die sie als langsam und unsensibel beschreibt. Der Dokumentarfilm hebt hervor, dass eine erste Durchsuchung des Schiffes später vom FBI als unvollständig befunden wurde, da sie nur Gemeinschaftsbereiche und nicht die Kabinen von Besatzung und Passagieren umfasste. Royal Caribbean beharrte darauf, „jederzeit angemessen und verantwortungsbewusst“ gehandelt zu haben und nie von den Strafverfolgungsbehörden über Beweise informiert worden zu sein, die auf ein Verbrechen hindeuteten.
Zwei Schicksale: Ein Sturz oder eine gewaltsame Entführung
Die Untersuchung, wie sie im Film dargestellt wird, spaltete sich schnell in zwei völlig unterschiedliche Narrative. Das erste und einfachste ist das eines tragischen Unfalls. Amy, die getrunken hatte, könnte desorientiert gewesen sein, sich über die Reling des fahrenden Schiffes gelehnt haben und in den weiten, dunklen Ozean gefallen sein. Eine Stunden später eingeleitete Suche hätte nahezu unmögliche Erfolgsaussichten gehabt. Die Küstenwache der Niederländischen Antillen führte eine viertägige Suche auf See durch, fand aber keine Spur von ihr. Die zweite Theorie, die die Familie von Anfang an vermutete, ist die einer kriminellen Entführung. Diese Möglichkeit erhielt Gewicht, als offizielle Ermittler erklärten, es gebe „keine Beweise dafür, dass Amy… über Bord gefallen, gestoßen wurde oder Selbstmord begangen hat“. Das FBI hat ihren Fall offen gehalten und sie auf die Liste der meistgesuchten vermissten Personen gesetzt, was darauf hindeutet, dass eine Straftat als ernsthafte Möglichkeit betrachtet wird. Diese Theorie besagt, dass Amy von Besatzungsmitgliedern oder anderen ins Visier genommen, möglicherweise unter Drogen gesetzt und dann vom Schiff geschmuggelt wurde, als es in Curaçao anlegte.
Schatten auf dem Deck: Verdächtige Personen
Die Entführungstheorie wird durch mehrere verdächtige Ereignisse und Interaktionen genährt, die im Dokumentarfilm detailliert werden. Der Fokus verengt sich auf Alister „Yellow“ Douglas, den Bassisten der Schiffsband. Amy soll erwähnt haben, dass er beim Tanzen „etwas zu nahe“ gekommen sei. Noch wichtiger ist, dass andere Passagiere berichteten, Amy mit Douglas auf einem Oberdeck zwischen 5:30 und 5:45 Uhr gesehen zu haben, genau in dem Zeitfenster, nachdem ihr Vater sie zuletzt gesehen hatte. Diese Zeugen behaupteten, Douglas habe ihr eine dunkle Flüssigkeit gereicht und sei wenige Minuten später allein von dort weggegangen. Zur Verstärkung des Misstrauens der Familie trat Douglas kurz nachdem das Verschwinden nur der Familie und der Sicherheit bekannt war, an Amys Bruder Brad heran und sagte, es tue ihm „leid, von deiner Schwester zu hören“. Brad fand die Bemerkung zutiefst beunruhigend. Douglas wurde vom FBI befragt und bestand einen Lügendetektortest; ohne direkte Beweise, die ihn mit dem Verschwinden in Verbindung brachten, wurde er nie angeklagt. Ein weiteres beunruhigendes Detail, das im Film präsentiert wird, ist das Verschwinden von Fotos von Amy aus der Fotogalerie des Schiffes. Der Schiffsfotograf erinnerte sich, mehrere Bilder entwickelt und ausgestellt zu haben, auf denen Amy zu sehen war, aber nachdem sie verschwunden war, waren genau diese Fotos verschwunden, was auf einen bewussten Versuch hindeutet, ihre Anwesenheit auszulöschen.
Ein Phantom in der Karibik: Die Sichtungen
In den folgenden Jahren wurde die Hoffnung der Familie durch eine Reihe von beunruhigenden und überzeugenden, aber letztlich unbestätigten Sichtungen am Leben erhalten. Im August 1998 sahen zwei kanadische Touristen an einem Strand in Curaçao eine Frau, von der sie überzeugt waren, dass es Amy war. Sie wurde von zwei aggressiv aussehenden Männern begleitet, und der Zeuge bemerkte, dass ihre Tätowierungen – die er genau beschrieb, bevor er jemals ein Vermisstenplakat gesehen hatte – mit denen von Amy übereinstimmten. Die Frau schien zu versuchen, Blickkontakt aufzunehmen, nachdem sie die Männer Englisch sprechen hörte. Ein Jahr später behauptete ein Unteroffizier der US-Marine, William Hefner, er sei in einem Bordell in Curaçao einer Frau begegnet, die sich als Amy Bradley ausgab. Sie soll ihn um Hilfe angefleht und gesagt haben, sie werde gegen ihren Willen festgehalten und dürfe nicht gehen. Hefner, der Konsequenzen fürchtete, weil er sich in einem Bordell aufhielt, meldete den Vorfall erst nach seiner Pensionierung. Als die Behörden ermitteln konnten, war das Bordell bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Dann tauchte ein eindringliches Foto von einer Website für Erwachsene auf, die für „erotische Urlaube“ warb. Das Foto zeigte eine Frau in Dessous, identifiziert als „Jas“, die eine starke Ähnlichkeit mit Amy hatte. Die Familie Bradley ist nach wie vor davon überzeugt, dass die verzweifelt aussehende Frau auf dem Bild ihre Tochter ist.
Der lange Leidensweg einer Familie
Der Dokumentarfilm vermittelt eindrucksvoll die verheerenden, jahrzehntelangen Auswirkungen auf die Familie Bradley. Ihr unerschütterlicher Glaube, dass Amy am Leben ist, wird durch ihren roten Miata symbolisiert, der immer noch in der Garage der Familie geparkt ist und wartet. Ihre verzweifelte Suche machte sie auch anfällig für grausame Ausbeutung. Der Film erzählt von ihrer Erfahrung mit einem Betrüger namens Frank Jones, der behauptete, ein ehemaliger Special-Forces-Agent zu sein. Er überzeugte die Bradleys, dass er Amy gefunden habe und eine Rettungsmission durchführen könne, und ergaunerte im Laufe der Zeit insgesamt 210.000 Dollar von ihnen. Er lieferte sogar gestellte Fotos als Beweis für seine Bemühungen. Jones wurde schließlich entlarvt und wegen Postbetrugs verurteilt. Ron Bradleys ergreifende Frage im Film – „Wenn es Ihr Kind wäre, was würden Sie tun?“ – fängt die Tiefe ihrer Verzweiflung ein.
Eine unbeantwortete Frage
Heute bleibt der Fall von Amy Lynn Bradley eine offene FBI-Ermittlung. Obwohl sie für rechtlich tot erklärt wurde, hat ihre Familie nie aufgehört zu suchen. Die Entdeckung eines menschlichen Kieferknochens in Aruba weckte kurzzeitig die Hoffnung auf Antworten, aber er passte nicht zu Amy. Das zentrale Rätsel bleibt bestehen, gefangen zwischen der Wahrscheinlichkeit eines tragischen Unfalls und der erschreckenden Möglichkeit eines finsteren Verbrechens, das durch eine Reihe überzeugender, aber unbeweisbarer Hinweise gestützt wird. Amy Bradley ist spurlos verschwunden bietet keine endgültige Antwort. Stattdessen hinterlässt es den Zuschauer mit der gleichen tiefen und quälenden Ungewissheit, mit der die Familie Bradley jeden Tag gelebt hat.
Das Verschwinden von Amy Lynn Bradley ereignete sich am 24. März 1998.
Wo kann man „Amy Bradley ist spurlos verschwunden“ sehen